Der Kyros-Zylinder
aus der Altorientalistischen Lehrsammlung
Am 12. Oktober 539 v. Chr. eroberte der persische Großkönig Kyros II (559–530 v. Chr.) Babylon, die Hauptstadt des neubabylonischen Reichs (625–539 v. Chr.) (s. Karte). Nachdem er bereits im Norden des Landes nach harten Gefechten die Region rund um Sippar besetzt hatte, zog er wenig später kampflos in die babylonische Hauptstadt ein. Damit verleibte er Babylonien seinem binnen kürzester Zeit geschaffenen Riesenreich ein.
Der sogenannte Kyros-Zylinder enthält einen in babylonischer Schrift und Sprache verfassten Bericht der Eroberung Babylons. Der Zylinder ist beschädigt, der Text daher unvollständig. Die zylindrische Form ist typisch für königliche Inschriften der spätbabylonischen Zeit. Diese Inschriften wurden in den Fundamenten von großen Gebäudekomplexen, wie etwa Tempeln oder Palästen, deponiert, um an den Bau und die Weihung des Gebäudes durch den jeweiligen König zu erinnern. In Mesopotamien geht diese Tradition bereits bis in das 3. Jahrtausend v. Chr. zurück. Der Kyros-Zylinder wurde entsprechend in die Fundamente der Stadtmauer von Babylon im Jahr 539 v. Chr. eingelassen, wo er bis zu seiner Auffindung 1879 die Zeiten überdauerte.
Die Inschrift berichtet, dass Nabonid, der letzte König von Babylon (555–539 v. Chr.), die Kulte der babylonischen Götter - einschließlich Marduk, dem Stadtgott von Babylon - verkommen ließ und der freien Bevölkerung einen Arbeitsdienst auferlegt hatte, woraufhin diese sich bei den Göttern beschwerte. Die Götter reagierten, indem sie Babylon verließen. Marduk jedoch suchte nach einem Helden, der die alten Traditionen wiederherstellen sollte. Er wählte Kyros, den König von Anshan (Persien) und erklärte ihn zum König der Welt. Zuerst dehnte Kyros sein Königtum über die Stämme des Irans aus und regierte sie gerecht. Anschließend erteilte Marduk Kyros den Befehl, auf Babylon zu marschieren, das er daraufhin kampflos einnahm. Nabonid wurde in seine Hände übergeben und das babylonische Volk akzeptierte freudig das Königtum von Kyros.
Von diesem Zeitpunkt an ist das Dokument so geschrieben, als ob Kyros selbst sprechen würde: „Ich, Kyros, König der Welt ...“. Er stellt sich als ein Anbeter Marduks dar, der sich um den Frieden in Babylon bemühte und den Arbeitsdienst der Bevölkerung abschaffte. Die Menschen der Nachbarländer brachten Tribut nach Babylon, und Kyros behauptet, ihre Tempel und religiösen Kulte wiederhergestellt und ihre zuvor deportierten Götter und Menschen zurückgebracht zu haben.
Der Kyros-Zylinder rückt mit der Geschichte der Eroberung Babylons und der nachfolgenden Ereignisse den neuen Fremdherrscher in ein günstiges Licht. Damit verbunden sind die Diskreditierung seines Vorgängers Nabonid als Versager und die Herausstellung der eigenen Maßnahmen zum Wohle aller.
Diese sehr positiv besetzte Rolle von Kyros als restituierendem, gnädigen Herrscher wird ihm auch von der hebräischen Bibel zugeschrieben, da er die Judäer aus ihrer babylonischen Gefangenschaft entließ. Sowohl aus babylonischer als auch aus hebräischer Sicht wurde Nabonid im Gegensatz zu Kyros später als archetypischer Unglücksherrscher charakterisiert.
Das Original des Kyros-Zylinders ist heute im British Museum in London ausgestellt. Eine Kopie des Zylinders befindet sich nicht nur in der Altorientalistischen Lehrsammlung der JGU, sondern auch im UNO-Hauptquartier in New York. Dieser unscheinbare Tonzylinder gilt nämlich als die erste bekannte Menschenrechtserklärung der Welt.
Literatur (Auswahl):
- Ambühl, Annemarie, Kyros. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.), Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8), Stuttgart/Weimar 2013.
- Curtis, John, The Cyrus Cylinder and Ancient Persia. A new Beginning for the Middle East, London 2013.
Grätz, Sebastian, Das Edikt des Artaxerxes. Eine Untersuchung zum religionspolitischen und historischen Umfeld von Esra 7, 12-26, Berlin/New York 2004. - Frahm, Eckart, Geschichte des alten Mesopotamien, Stuttgart 2013.
- Schaudig, Hanspeter, Die Inschriften Nabonids von Babylon und Kyros‘ des Großen samt den in ihrem Umfeld entstandenen Tendenzschriften, Münster 2001.
- Wiesehöfer, Josef, Das antike Persien 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., Düsseldorf 2005.
- Wiesehöfer, Josef, Kyros 2. In: Der Neue Pauly. Band 6, Stuttgart 1999, Sp. 1014–1017.