Bis auf die Knochen – Die Häutung des Marsyas
aus den Klassisch-Archäologischen Sammlungen
Das Objekt des Monats August 2013 ist in der Abguss-Sammlung des Arbeitsbereichs Klassische Archäologie am Institut für Altertumswissenschaften zu sehen. Es handelt sich um einen Gipsabguss einer antiken Marmorstatue in der Münchner Glyptothek (Inv. 280), die wiederum eine römische Kopie eines heute verlorenen hochhellenistischen Bronzeoriginals aus der Zeit der Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert v. Chr. ist.
Ein aufmerksamer und in den antiken Mythenerzählungen bewanderter Betrachter der Figur meint förmlich, die Angstschreie des seiner brutalen Schindung Harrenden deutlich vernehmen zu können. Der Satyr Marsyas hängt mit nach oben gebundenen Armen an einem Baum und wartet darauf, dass ein am Bode n hockender Skythe, ein Barbar aus den Weiten der nördlich des Schwarzen Meeres, im heutigen Südrussland/Ukraine gelegenen eurasischen Steppen, sein grausames Handwerk beginnt. Noch schleift dieser das Messer, mit dem er die durch die Hängung straff gespannte Haut des Marsyas an den Handgelenken beginnend einschneiden und diese dem Satyrn dann bei lebendigem Leibe langsam vom Körper ziehen wird.
Doch wie kam es zu dieser brutalen Handlung? Eigentlich fing alles recht harmlos an. Die Göttin Athena hatte die Flöte erfunden, sich in deren Spiel leidlich geübt und gemeint, damit ihre Mitgötter entzücken zu können. Doch das Gegenteil war der Fall. Zeus und die anderen Olympier brachen in schallendes Göttergelächter aus. Ein Blick ins Wasser offenbarte Athena des Rätsels Lösung für ihren misslungenen Auftritt. Um der Flöte Töne zu entlocken, musste sie ihre Backen aufblasen, was zu der entstellenden Grimasse führte, die zum Lachen Anlass gab. Wütend warf sie sogleich das vermaledeite Blasinstrument weg und verfluchte diejenigen, die es wagen sollten, sich dessen zu bemächtigen. Bald darauf kam nichtsahnend einer der spitzohrigen und stets trinkfreudigen Begleiter des Dionysos, der Satyr Marsyas, des Weges, sah die Flöte, hob sie auf und das Unglück nahm seinen Lauf. Marsyas brachte es nämlich nach einigem Üben zu einer großen Meisterschaft im Flötenspiel und trunken vor eigenem Hochmut wagte er es, den Gott Apollon im Instrumentenspiel herauszufordern. Man rief die Musen als Schiedsrichterinnen an und vereinbarte, dass der Sieger mit dem Unterlegenen machen könne, was er wolle. Lange war der Wettstreit unentschieden, bis Apollon zu der Finte griff, die Musikinstrumente sollten beim Spiel umgedreht werden. Was bei der Leier des Gottes kein Problem war, erwies sich bei der Flöte des Marsyas als verheerend. Kein vernünftiger Ton war auf diese Weise noch herauszubringen. Der Satyr musste seine Niederlage eingestehen. Die Folgen sind bekannt: Apollon bestrafte seinen Widersacher, indem er ihm die Haut abziehen ließ. Aus dem reichlich fließenden Blut soll dann bei der antiken Stadt Kelainai in Phrygien der gleichnamige Fluss Marsyas entsprungen sein. Nach dem Zeugnis des Herodot (Historien 7, 26) und Xenophon (Anabasis 1, 2, 8) hing noch zu ihrer Zeit in der Stadt beziehungsweise direkt in der Quellgrotte die Haut des so grausam Hingerichteten.
Dem heutigen Betrachter schaudert es, ob dieser brutalen Schindung eines unterlegenen Gegners. Wir empfinden Mitleid und verurteilen den Sieger, der eine solche Tortur angeordnet hat. Es ist vor allem unser christliches Mitgefühl, das in langen Jahrhunderten entsprechender kulturbedingter Sozialisierung uns Heutige dazu veranlasst, die Perspektive des Marsyas einzunehmen und Gewalt an bereits geschlagenen Gegnern grundsätzlich abzulehnen. Hierfür verantwortlich sind nicht zuletzt auch entsprechende Darstellungen christlicher Märtyrer wie des heiligen Bartholomäus, dem ähnliches widerfahren war. Wir können gar nicht anders, als in der Häutung eines noch Lebenden einen besonders zu verteufelnden Akt von übertrieben grausamer Barbarei zu sehen.
Ist dies aber auch die Sicht der antiken Menschen gewesen? Welche Veranlassung hatten der oder die Auftraggeber, als sie gegen 200 v. Chr. einen für uns leider namenlosen Künstler dafür bezahlten, eine bronzene Gruppe, bestehend aus dem Marsyas, seinem Schinder und möglicherweise auch Apollon selbst, zu verfertigen und diese dann anschließend höchstwahrscheinlich in ein Heiligtum des Gottes weihten? Welches Licht warf dieses Denkmal auf Apollon, doch sicher kein negatives? Denn nach der Mitleidstheorie des Aristoteles, wonach man, um zum Mitleiden überhaupt fähig zu sein, sich zwingend in die Lage der zu bemitleidenden Person versetzen müsse, konnte ein antiker Betrachter gar kein Mitleid mit Marsyas empfinden. Erstens war dieser kein Mensch, sondern ein Mischwesen und zweitens hatte sich dieser eines ungeheuren Sakrilegs schuldig gemacht. Wer in seiner Überheblichkeit einen Gott herausforderte, zeigte griechisch gesprochen Hybris und ein solches frevelhaftes Verhalten war nach antikem Dafürhalten nicht zu entschuldigen, sondern bedurfte einer harten Bestrafung. Aus all diesen Gründen ist es einem zeitgenössischen Betrachter gar nicht möglich gewesen, Mitleid mit dem Unterlegenen zu empfinden und den Sieger wegen seiner scheinbaren Grausamkeit zu verfluchen.
Das Gegenteil war vielmehr der Fall! Die von Apollon ausgeübte Gewalt stellte eine legitime dar und somit konnten die Gläubigen diese gebührend feiern. Entsprechend werden die antiken Besucher eines Apollon-Heiligtums ein solches Denkmal als Ausdruck der überragenden Macht des von ihnen verehrten Gottes positiv gewürdigt haben. Ob das Monument darüber hinaus auch ein politisches gewesen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Denkbar wäre eine Weihung durch eine hellenistische Königsdynastie, die sich direkt auf Apollon als ihren olympischen Stammvater oder besonderen Schutzgott berief. In einem solchen Fall könnte die göttliche Strafaktion auch als vorbildhaft wirkendes mythisches Exemplum für potenzielle königliche Machtdemonstrationen verstanden worden sein.
Ein besonderes Interesse an diesem Sujet zeigten freilich auch viele reiche Römer, die lange nach dem Entstehen der bronzenen Originalgruppe von spezialisierten Werkstätten marmorne Kopien zur Ausstattung ihrer luxuriösen Stadthäuser und Landvillen kauften. Dabei war die Figur des Marsyas offenbar besonders beliebt. Während von dieser eine größere Anzahl bekannt ist, kennen wir von der des Skythen nur ein einziges, heute in den Florentiner Uffizien aufbewahrtes Exemplar. Von dem möglicherweise einst ebenfalls zur Gruppe gehörenden Gott Apollon scheinen dagegen bis heute keine rundplastischen Kopien identifiziert worden zu sein. Eine Besonderheit der Überlieferung stellt zudem der Umstand dar, dass es vom Marsyas zwei Fassungen gibt, eine weiße und eine rote. Augenscheinlich genügten einigen römischen Villenbesitzern die weißen Marmorleiber nicht und sie bevorzugten stattdessen solche aus rotgeädertem Stein, bei denen die Assoziation zum enthäuteten Körper des Marsyas noch wesentlich deutlicher war. In den Gärten aufgestellt, mögen diese einen aus unserer Sicht seltsamen Reiz auf die antiken Betrachter ausgeübt haben. Doch ging es hierbei sicherlich nicht darum, eventuelle sadomasochistische Bedürfnisse ihrer einstigen Besitzer zu befriedigen. Vielmehr muss man sich klarmachen, dass die Gärten reicher Römer bewusst als heilige Haine sowie entsprechend ausgestattete mythische Orte inszeniert worden sind und in einem solchen Kontext hatte auch die Figur des geschundenen Marsyas ihren Platz. Sie gab den hochgebildeten Betrachtern vielfältigste Assoziationsmöglichkeiten. Neben der bloßen Memorierung eines bekannten Mythos als Ausdruck sowie Ausweis einer entsprechenden, hohen sozialen Rang ausdrückenden Bildung gab der Anblick Gelegenheit zu vielfältigen philosophischen Überlegungen über die Macht des Schicksals und der Götter schlechthin. Aber auch in diesem Kontext spielte Mitleid keine Rolle.
Dr. Patrick Schollmeyer
Literatur zu Marsyras und seiner Bestrafung (Auswahl)
Hugo Meyer: Der weiße und der rote Marsyas (1987).
Susanne Muth, Ein anderer Blick auf die Gewalt. Wie fremd uns antike Darstellungen von Leid und Gewalt eigentlich sind, in: Die Launen des Olymp. Der Mythos von Athena, Marsyas und Apoll, Ausstellungskatalog Frankfurt, Liebieghaus (2008) 128-137.
Ursula Renner – Manfred Schneider: Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos (2006).