Rätselhafte Verkündigung
aus der Kunstgeschichtlichen Sammlung
Zwei zentrale Ereignisse im Leben Marias, die im Lukasevangelium (Lk 1,26-38) überliefert sind, werden in diesem mittelalterlichen Reliefbild dargestellt: die Verkündigung der Schwangerschaft durch den Erzengel Gabriel und der Moment der göttlichen Empfängnis selbst, der durch die von links herabfallenden Strahlen des Heiligen Geistes verbildlicht wird. Zwei Spruchbänder, die in der gezeigten Mainzer Kopie nicht mehr lesbar, aber durch Vergleichsstücke vielfach belegt sind, unterstreichen die zentralen Aussagen des Geschehens: der Engelsgruß: „Ave Maria, gratia plena“ (Gegrüßt seist Du Maria, voll Gnade) und die Marienworte „Ecce ancilla domini. Fiat mihi secundum verbum tuum“ (Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort).
Das Relief gibt ein zeitgenössisches Interieur der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder. Dadurch sollte das heilige Geschehen dem Gläubigen nahegebracht und in einer für ihn bekannten Umgebung verortet werden. Der Realitätsbezug des Raums wird durch das Bemühen um perspektivische Verkürzung betont. Im Kontrast hierzu präsentiert sich das Ereignis selbst. Maria und Gabriel dominieren in ihrer überproportionalen Größe die Komposition. Durch diese irreale Bedeutungsperspektive werden die Personen und das Geschehen in eine sakrale Sphäre gehoben, eine Wirkung, die durch die aufwendige Vergoldung des polychromen Reliefs noch unterstützt wird.
Die Darstellung kopiert in Stil und Komposition mehrere flämische Tafelbilder (u.a. eine „Verkündigung“ in Brüssel und die Mitteltafel des „Mérode-Triptychons“ im Metropolitan Museum in New York) gleichen Inhaltes, die in die 1420er Jahre datiert werden. Diese werden in der Forschung Robert Campin (um 1375-1444) zugeschrieben oder einer gemeinschaftlich arbeitenden Künstlergruppe, die den Notnamen „Meister von Flémalle“ erhielt und in Tournai ansässig war. Die Kompilation mehrerer Vorbilder aus der Tafelmalerei durch den Tonbildner hatte einzelne Darstellungsfehler zur Folge. So müssten beispielsweise am Kamin statt eines zwei Ständer für den Hitzeschild vorkommen. Das Rundfenster, durch das die Strahlen des Heiligen Geistes in den Raum dringen, entstammt dem „Mérode-Triptychon“, wo es eine Außenwand ziert. Im Relief findet sich unter dem Fenster eine Öffnung in der Wand, die wiederum den Durchgang in das Nachbarzimmer aus der „Brüsseler Verkündigung“ übernimmt, wo allerdings die Rundfenster, wie auch die Strahlen des Heiligen Geistes fehlen. Die Kombination von Außenfenster und Zimmerdurchgang im Relief wirkt architektonisch widersprüchlich.
Die „Verkündigung“ war ein äußerst beliebtes Thema für Andachts- und Votivbilder, galt die weit verbreitete Szene in der christlichen Vorstellung doch als ein legitimes Sinnbild in Bezug auf den Kinderwunsch von Paaren. Das Original, nach dem dieser Abguss entstand, war ein Tonrelief, das wohl um 1500 in Utrecht gefertigt wurde, wo sogenannte Bilderbäcker – dies waren auf Ton spezialisierte Kunsthandwerker – in der dortigen Lukasgilde organisiert waren. Diese Technik ermöglichte die kostengünstige, serielle Produktion einer haptisch reizvollen Massenware, deren Marktwert durch die damals noch urheberrechtsfreie Aneignung von Stil und Komposition berühmter Bildkompositionen gezielt gesteigert wurde. Jahrhunderte später konnte – wie im vorliegenden Fall – ein solches Tonrelief seinerseits zum kostbaren Einzelstück werden. Im mittelalterbegeisterten 19. Jahrhundert reproduzierte man es in Gips für das Bildungsbürgertum. Und auch diese in der Mainzer Universitätssammlung erhaltene Replik ist nun selbst zu einem faszinierenden Forschungsobjekt geworden. Bislang wissen wir nicht, woher das von Brandspuren gezeichnete Gipsrelief stammt, oder wie es in den Bestand der Kunsthistorischen Sammlung der Mainzer Universität gekommen ist. Rätselhaft ist auch der Verbleib des Originals aus Ton, von dem die Kopie genommen wurde. Zwar stimmen Darstellung und Maße mit einem Relief aus dem Stift von Elten (heute ein Stadtteil von Emmerich) überein, welches um die Jahrhundertwende in das Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld gekommen war. Das durch Schwarz-Weiß-Fotos publizierte Objekt besaß aber offenbar eine andere Farbfassung. Der Versuch, dies zu überprüfen, förderte bisher nur zu Tage, dass das Tonrelief im Krefelder Museum heute nicht mehr bekannt ist.
Dr. Klaus T. Weber, Sammlungsbeauftragter für die Kunstgeschichtliche Sammlung,
Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, Abteilung Kunstgeschichte
Literatur
Burkhard Meier: Judocus Vredis und die Utrechter Bilderbäcker, in: Westfalen Nr. 7 (1915), S. 105-134.
Stephan Kemperdick: Der Meister von Flémalle: die Werkstatt Robert Campins und Rogier van der Weyden, Turnhout 1997.
Stephan Kemperdick (Hg.): Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ostfildern 2008.
Jaap Leeuwenberg: Die Ausstrahlung Utrechter Tonplastik, in: Studien zur Geschichte der Europäischen Plastik. Festschrift.
Theodor Müller, München 1965, S. 151-166.
Dagmar Preising und Michael Rief (Hg.): Mittelalterliche Bildwerke aus Utrecht 1430-1530, Ausst.-Kat. Museum Catharijneconvent Utrecht und Suermondt-Ludwig Museum Aachen 2012.
Felix Thürlemann: Robert Campin, München 2002.