Objekt des Monats – Juni 2013

Moses von Michelangelo

aus den Kunstgeschichtlichen Sammlungen

Der Abguss dieser berühmten Skulptur von Michelangelo, der seit kurzer Zeit als Säulenfigur der Bereichsbibliothek Georg Forster-Gebäude auf dem JGU-Campus ein visuelles Zentrum gibt, kam bereits im 19. Jahrhundert nach Mainz und war Teil der Sammlung des Vereins der Freunde plastischer Künste, der Abgüsse berühmter (Foto: Monika Gräwe, Arbeitsbereich Digitale Dokumentation)Statuen vom Apoll vom Belvedere bis zu Michelangelos Moses nach dem damaligen Zeitgeschmack sammelte. Der Kunsthistoriker Herman Friedrich Grimm bezeichnete den Moses in seiner 1860 erschienenen Michelangelo-Monografie als Höhepunkt der abendländischen Skulptur. Michelangelo galt dem späten 19.Jahrhundert zudem als quasi deutscher Künstler, so sehr sah man in seinen Werken nationale Werte verkörpert.

Die Nachfrage nach Abgüssen berühmter Skulpturen der europäischen Kunst war Mitte des 19. Jahrhunderts auf ihrem Höhepunkt. Insbesondere in Italien entstanden spezialisierte Werkstätten, die in die ganze Welt lieferten. Sie verwendeten Teilgießformen, deren Teile am Ende wieder zusammengesetzt wurden. Damit gelang es, auch die größten Skulpturen zu kopieren. Aus welcher Werkstatt der Mainzer Abguss stammt, ist heute nicht mehr zu ermitteln. Einer der wenigen anderen erhaltenen maßstabsgerechten Abgüsse des Moses befindet sich im Victoria and Albert Museum in London. Das Museum kaufte den Abguss im Jahr 1858 in einem Pariser Atelier.

Mit der Gründung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 1946 wurden die Reste der einst im Schloss aufgestellten Abgussammlung auf die Institute für Klassische Archäologie und Kunstgeschichte aufgeteilt. Bis zum Umzug des Instituts für Kunstgeschichte in das neue Georg Forster-Gebäude auf dem Universitätscampus im Mai 2013 stand der Moses zuletzt im Treppenhaus des Instituts in der Binger Straße. Für die neue Aufstellung wurde er von der Firma Sauer restauriert.

Die Marmorstatue Michelangelos

Zwischen 1532 und 1542 wurde das bereits 1513-1516 geschaffene Original aus Marmor im Zentrum der Sockelzone des Wandgrabmals Papst Julius' II. della Rovere in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom aufgestellt, wo es sich auch heute noch befindet. Diese Aufstellung entspricht jedoch nicht dem Ort, für den sie Michelangelo 1513 vorgesehen hatte. Tatsächlich wurde dem Künstler der prestigeträchtige Auftrag eines Grabmals für Julius' II. bereits kurz nach dessen Wahl zum Papst 1505 erteilt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte Michelangelo bis zum ausgeführten Grabmal 1542 nicht weniger als sechs Projekte.

Während der erste Entwurf ein auf einem rechteckigem Grundriss sich erhebendes frei stehendes Mausoleum in Gestalt einer dreigeschossigen Stufenpyramide mit zahlreichen Skulpturen vorsah, war Michelangelo im Laufe der Zeit gezwungen, seinen großartigen Entwurf immer weiter zu reduzieren, bis schließlich fast vierzig Jahre danach ein Wandgrabmal realisiert wurde, an dem bis auf den Moses kaum eine andere Skulptur von Michelangelo eigenhändig ausgeführt worden war. Die Skulptur des Moses war von Beginn an Bestandteil des Projekts. Sie wurde im Jahr 1513, im Todesjahr Julius' II., begonnen.

In den ersten Entwürfe(Foto: Thomas Kaffenberger)n für das Grabmal war sie jeweils für eine Aufstellung über der Ecke der ersten Abtreppung, also in einer Höhe über dem Betrachter, vorgesehen. Auf diesen Betrachterstandpunkt ist sie auch konzipiert worden. Die heutige Aufstellung in der Sockelzone des Wandgrabmals fast auf Augenhöhe des Betrachters trägt den für eine Ansicht von unten berechneten Verkürzungen des massiven Körpers daher keine Rechnung.

Im Gegensatz zu den ersten Entwürfen des Grabmals, bei denen Moses nur einer von vier monumentalen Skulpturen auf der Gesimshöhe sein sollte, wurde er in der Ausführung in San Pietro in Vincoli in Rom schließlich zu einer zentralen Gestalt, über der sich die Liegefigur des toten Papstes befindet. In der vertikalen Blickachse des Grabmals legt das Übereinander von Mosesstatue und Liegefigur des Papstes die Übertragung der Eigenschaften des alttestamentarischen Propheten und Gesetzgeber auf den Papst bei.

Was aber stellt die Statue eigentlich dar? Die Forschung ist sich darüber einig, dass Michelangelo Moses, der seine rechte Hand auf die Gesetzestafeln stützt und mit seiner linken in den langen Bart fasst, in jenem Moment dargestellt hat, in dem er sich kurz nach seinem Abstieg vom Berg Sinai, wo er der biblischen Erzählung zufolge von Gott die Gesetzestafeln erhielt, befunden haben muss. Nach seinem Abstieg traf er zu seinem großen Missfallen sein Volk beim Tanz um das Goldene Kalb an (2. Mose 32,15-20). Seine von einem grimmigen Blick begleitete Körperwendung nach links suggeriert daher, Moses würde sich im nächsten Moment aufrichten, um vor seinem Volk die Gesetzestafeln auf dem Boden zu zerschmettern zum Zeichen dafür, dass es von dem Gott, von dem es sich kein Bild machen sollte, abtrünnig geworden war. Die Statue ist mit einer Tunika bekleidet und hat zwei Hörner auf dem Kopf. Diese verdanken sich der fehlerhaften Übersetzung der Vulgata. Das hebräische Verb "qāran" (strahlend) wurde in der Vulgata stattdessen mit "cornuto" (gehörnt) übersetzt.

Bereits der Verfa(Foto: Monika Gräwe, Arbeitsbereich Digitale Dokumentation)sser der Lebensbeschreibungen der berühmten Künstler der Renaissance (1568), Giorgio Vasari, für den Michelangelo die Krone der Kunstentwicklung darstellte, beschreibt die Skulptur voller Bewunderung. Insbesondere weist er aber auch darauf hin, dass die Juden Roms zu dieser Statue des alttestamentarischen Heroen gepilgert seien: "Und die jüdischen Männer und Frauen mögen weiterhin jeden Samstag wie die Stare in Scharen zu ihm kommen und ihn bewundern und werden dabei kein menschliches, sondern ein göttliches Werk verehren." Vasaris besondere Wertschätzung der Statue hat ihre Rezeption nachhaltig geprägt. Wenig später sah man in der Mosesstatue bereits eine Verkörperung des Künstlers Michelangelo.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass im 19. Jahrhundert die Rezeption der Statue um die Themen 'Moses der Künstler und Gesetzgeber' kreist. Von Goethe sind mehrere Äußerungen über den Moses Michelangelos überliefert. Er sah in diesem Standbild, eine "überkräftige Statue des Michelangelo am Grabe Julius des Zweiten", die "sich meiner Einbildungskraft dergestalt bemächtigt, dass ich nicht davon loskommen kann." Tatsächlich erwarb er eine Bronzestatuette, die er im Juno-Zimmer seines Hauses aufbewahrte. Friedrich Nietzsche nahm die Deutungstradition des Moses als Verkörperung Michelangelos wieder auf, übersteigerte diese nun jedoch ins Allgemeine: Ausgehend von der Statue interpretierte er Moses als Künstler und Gesetzgeber neuer Werte.

Sigmund Freud widmete der Statue sogar eine eigene Abhandlung, in der er sich mit der Körperspannung und Bewegungsandeutung auseinandersetzte. Den historischen Moses verstand er in der Tradition Nietzsches als Verkörperung des Über-ich, weil dieser mit der Zerstörung des goldenen Kalbes und des Zerschmetterns der Gesetzestafeln in der Lage gewesen sei, zerstörerische Affekte im Dienst der Gesittung und Zivilisation einzudämmen. Von Michelangelos Moses bekannte er, "von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung" erfahren zu haben. Das Bildwerk veranschaulichte für ihn "die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, [...] das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat".

(Foto: Monika Gräwe, Arbeitsbereich Digitale Dokumentation)

Auch Thomas Mann knüpft an die Interpretation des Moses als Künstler an. In seiner Erzählung "Das Gesetz“, die er für einen Sammelband über die Aktualität der Zehn Gebote im Jahr 1943 verfasste, weisen einige Stellen darauf hin, dass ihm Michelangelos Moses Modell stand. Moses wird hier als Künstler beschrieben, der in jahrelanger Arbeit den Wortlaut der Gebote in die Steintafel eingräbt.

Die Rezeption der Statue nach 1945 ist bislang noch nicht erforscht. Sie zählt heute zu den touristischen Highlights für Rom-Reisende, wobei die tiefe Einschreibung dieser Skulptur in unser kulturelles Gedächtnis leider kaum noch Beachtung findet. Mit vielen anderen Statuen ihrer Art teilt sie heute das Schicksal einer fortschreitenden Trivialisierung durch die Praktiken der Tourismusindustrie, zu der nicht zuletzt auch ihre massenhafte Verbreitung gehört.

Mit der Entscheidung, den Abguss auf eine Säule in der Bereichs-bibliothek Georg Forster-Gebäude gut sichtbar aufzustellen, sind keine Vorgaben für ihre Interpretation verbunden. Es war uns ein Anliegen, für den Abguss eine geeignete Aufstellung zu finden und sie in das Bewusstsein der universitären und der Mainzer Öffentlichkeit zurückzubringen.

Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Oy-Marra

Quellen

Ascanio Condivi, Vita di Michelagnolo Buonarroti raccolta per Ascanio Condivi da la Ripa Transone (Rom 1553). Teil I: Volltext mit einem Vorwort und Bibliographien (Fontes. 34) [Volltext]
Das Leben des Michelangelo Buonarotti. Das Leben Michelangelos beschrieben von seinem Schüler Ascanio Condivi. Aus dem Italienischen übers. u. erl. von Hermann Pemsel. München 1898.

Giorgio Vasari Le vite de' piú eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani da Cimabue insino a' tempi nostri. Erste Ausgabe Florenz 1550. Zweite erweiterte Ausgabe Florenz 1568. Das Leben des Michelangelo. Hrsg. von Alessandro Nova. Bearb. von Caroline Gabbert. Neu ins Deutsche übers. von Victoria Lorini. Berlin 2009. (Edition Giorgio Vasari).

Literatur (Auswahl)

Andreas Beyer: "...was ein Mensch vermag..." – Anmerkungen zu Goethes Würdigung des Michelangelo, in: Goethe e l'Italia, hg. von Marino Freschi, Rom 2000, 55-67.

Gerd Blum: Michelangelo als neuer Mose: zur Rezeptionsgeschichte von Michelangelos 'Moses'; Vasari, Nietzsche, Freud, Thomas Mann, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 53.2008, 1, 73-106.

Horst Bredekamp: Ende (1545) und Anfang (1505) von Michelangelos Juliusgrab. Frei- oder Wandgrab? In: Horst Bredekamp, Volker Reinhardt (Hrsg): Totenkult und Wille zur Macht. Darmstadt 2004, S. 61-83.

Claudia Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal für Papst Julius II., München 2010

Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo. in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 3, 1914, S. 15-36.

Joseph Imorde: Michelangelo Deutsch!, Berlin 2009.

Bram Kampers: Die Erfindung eines Monuments. Michelangelo und die Metamorphosen des Juliusgrabmals. In: Horst Bredekamp, Volker Reinhardt (Hrsg): Totenkult und Wille zur Macht. Darmstadt 2004, S. 41-59.

Friedemann W. Golka: Mose – Biblische Gestalt und literarische Figur. Thomas Manns Novelle "Das Gesetz" und die biblische Überlieferung, Stuttgart 2007.

Herman Friedrich Grimm: Leben Michelangelo's, Band I, 1860.

Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 51966 (Sonderausg. Darmstadt 1997), hier Bd. 3, 857.

Georg Satzinger: Michelangelos Grabmal Julius’ II. in S. Pietro in Vincoli. in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64, 2001, S. 177-222.

Marjorie Trusted (Hrsg.): The Making of Sculpture. The Materials and Techniques of European Sculpture. London: 2007, p. 166-167, pl. 315

Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Papst Julius II. Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker. (= Kleine Politische Schriften Bd. 12), Wallstein Verlag, Göttingen.