Objekt des Monats – November 2015

Von Menschen und anderen Affen

aus der Osteologischen Lehrsammlung

(Foto:Thomas Hartmann-Universitätsbibliothek Mainz)

Die Osteologische Lehrsammlung des Instituts für Anthropologie umfasst vor allem Replikate heute lebender und ausgestorbener Primaten-Arten. Die gezeigten Schädel sind solche Replikate, und zwar vom Menschen (Homo sapiens), von einem Lemuren (Lemur catta), einem Neuweltaffen (Cebus olivaceus) und einem Schimpansen (Pan troglodytes). Die letzten drei Vertreter sind in Madagaskar, Südamerika und Afrika beheimatet, finden sich aber auch in diversen Zoos. Insbesondere durch die Vernichtung des Lebensraumes und direkte Bejagung sind zahlreiche Primaten-Arten in ihrem Bestand und letztlich in ihrem Überleben in der freien Wildbahn bedroht. Von dieser Bedrohung sind auch Arten wie der hier gezeigte Gemeine Schimpanse oder dessen kleinerer Verwandter, der Zwergschimpanse, betroffen.

In der Ausbildung der Studierenden werden die Replikate genutzt, um die stammesgeschichtliche Verwandtschaft der Arten zu ermitteln. Dabei stellen die ausgewählten Arten nur eine Auswahl der in der Lehrsammlung repräsentierten rund 40 Arten dar – und diese bilden wiederum nur einen Ausschnitt aller ausgestorbenen und heute lebenden Primaten-Arten ab. Letztendlich geht es also in den Kursen für die Studierenden der Anthropologie darum, anhand einzelner Arten die Verwandtschaft größerer Abstammungsgemeinschaften zu rekonstruieren. Grundlegendes Prinzip der Analysen ist, dass stammesgeschichtliche Verwandtschaft ausschließlich über evolutive Neuheiten ermittelt werden kann. Das mag trivial klingen, hat aber weitreichende Implikationen für das Bild, dass wir von unserer eigenen Art haben.

Dass im vorliegenden Beispiel Mensch, Schimpanse und Neuweltaffe untereinander näher verwandt sind, wird auch der Laie erkennen. So haben die drei Arten eine verkürzte Nasenhöhle, während die Nasenhöhle und sogar die gesamte „Schnauze“ beim Lemuren recht lang ist und an einen Hund erinnert. Die Frage ist nun, welche zwei Arten innerhalb der Dreiergruppe nächstverwandt sind. Eine Antwort liefert unter anderem die Anzahl der Zähne: Hinter jedem Eckzahn befinden sich bei Mensch und Schimpanse fünf Zähne, beim Neuweltaffen sechs Zähne. Der Vergleich mit dem Lemuren (sechs Zähne) verdeutlicht, dass der Neuweltaffe den evolutiv alten Zustand aufweist (ebenfalls sechs Zähne), während Mensch und Schimpanse den evolutiv neuen Zustand teilen (fünf Zähne). Mit anderen Worten: Bei einem gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse ist es zur Reduktion eines Zahnes (pro Kieferhälfte) gekommen. Der Schimpanse ist also näher mit dem Menschen verwandt als mit anderen „Affen“.

Tatsächlich sind Schimpansen als Gruppe (es gibt mehrere Arten) und Mensch nicht nur innerhalb des sehr überschaubaren Beispiels, sondern auch bei Berücksichtigung aller heute lebenden Primaten-Arten nächstverwandt. Diese Einsicht wird durch eher subtile anatomische Merkmale und vor allem zahlreiche molekulare Daten gestützt, so dass durchaus von einer Tatsache gesprochen werden kann. Das wiederum entzieht der Auffassung, wonach der Mensch etwas Besonderes darstellt, zumindest jede stammesgeschichtliche Grundlage. Entsprechend traf und trifft die nahe Verwandtschaft von Mensch und Schimpansen bei vielen Menschen auf Ablehnung. Dessen ungeachtet hat sich in der Fachwelt und in weiten Kreisen der Öffentlichkeit schon lange durchgesetzt, dass der Mensch auch nur ein Affe ist.

PD Dr. Holger Herlyn, Beauftragter für die Osteologische Lehrsammlung des Instituts für Anthropologie